Der Alte Leipziger Bahnhof in Dresden

Wieder droht eine Sünde wider die nachhaltige Entwicklung Dresdens


Von PETER BÄUMLER und CHRISTIAN HELMS
      Wo das europäische Eisenbahnzeitalter begann, die industrielle Revolution auf dem Kontinent eingeläutet wurde, könnte sich Sachsen wieder als innovatives und zukunftsfähiges Land empfehlen. Was würde sich dafür besser eignen, als das Zukunftsthema "Nachhaltige Mobilität"? In einem Verkehrsmuseum auf dem Alten Leipziger Bahnhof könnte es gemeinsam mit den Zeugnissen der Verkehrsgeschichte ein attraktiver Ausstellungsschwerpunkt werden. Noch 2009 sah die Museumskonzeption des Freistaates vor, das Dresdner Verkehrsmuseum (VDM) auf diesen traditionsreichen Standort zu verlagern. Dem entspricht auch der gültige Masterplan der Stadt Dresden für die Leipziger Vorstadt. Er sieht vor, das ehemalige Bahnhofsgelände zum Kulturstandort zu entwickeln.


     Die Sammlung des Verkehrsmuseums im Residenzgebäude Johanneum am Dresdner Neumarkt ist derzeit schon sehr beengt untergebracht. Dieser Standort bietet auch keine Möglichkeit, weitere zum Teil sehr große und auf viele provisorische Standorte verstreute und wertvolle Exponate der Verkehrstechnik zusammen zu führen. Zudem beanspruchen die Kunstsammlungen das zum Schlosskomplex gehörende Renaissancegebäude. Für den "Langen Gang" in dem die maritime Sammlung des VDM gezeigt wird endet der Mietvertrag definitiv zum 1.1.2016. Zum Mietvertrag für das Residenzgebäude bietet der Freistaat der Stadt Dresden an über eine Verlängerung bis 2021 zu verhandeln, nicht länger.

Von alldem unbeeindruckt entschieden die Fraktionen der CDU, FDP und Bürger im Stadtrat Dresden, auf dem Areal des Alten Leipziger Bahnhofs den größten Supermarkt Dresdens mit 1000 Parkplätzen zu planen. Das würde den authentischen Ort der Eisenbahngeschichte vernichten. Zudem wäre die Chance vertan, den Gedenkort angemessen mit einem erweiterten Verkehrsmuseum zu verbinden. Selbst die prognostizierten verheerenden Auswirkungen auf den Handel, die Umwelt und die weitere Entwicklung des zentrumsnahen Stadtgebietes hält die Stadt nicht davon ab, grünes Licht für den Maßstäbe sprengenden Einkaufspark zu geben.

Vor 173 Jahren begann die wechselvolle Geschichte der für Dresdens Entwicklung bedeutungsvollen Flur

      Bereits 1828 – die erste Eisenbahn fuhr 1825 in England – erkannten die Leipziger Handelsbürger das wirtschaftliche Potential dieses neuen Verkehrsmittels. Verbindungen nach Magdeburg und Frankfurt am Main wurden in Erwägung gezogen. Doch verhinderten damals noch vor allem technische Probleme ihre Verwirklichung.
 

     Ermutigt durch den Erfolg der ersten deutschen "Eisenbahn mit Dampffahrt von Stephensons ADLER zwischen Nürnberg und Fürth" im Jahr 1835 auf einer sechs Kilometer kurzen Strecke und bestärkt durch Friedrich List und seine Schrift "Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden" brachten private Aktionäre in Leipzig zwei Jahre später das Kapital von mehr als einer Million Thaler für die erste deutsche Fernverbindung Leipzig-Dresden auf. Während sich Friedrich List in seiner 1833 in Leipzig veröffentlichten Schrift weitsichtig für ein koordiniertes gesamtdeutsches Eisenbahnnetz einsetzte, verfolgten die Geldgeber kurzfristige Dividende-Interessen. Ebenso wie die vielen regionalen Eisenbahnunternehmen, die sich kurz darauf in ganz Deutschland bildeten. Vornehmlich privat finanziert, wuchs allein das deutsche Bahnnetz zwischen 1840 und 1870 von 469 auf 18.480 Kilometer. Erst die im letzten Viertel des Jahrhunderts einsetzenden Verstaatlichungen, ermöglichten die Koordinierung der Verbindungen.
 

      Nur dreieinhalb Jahre dauerten die Bauarbeiten für die erste deutsche Fern-Eisenbahnstrecke von Leipzig nach Dresden. Bis zu 8000 Arbeitskräfte waren gleichzeitig im Einsatz. Zahlreiche technische Pionierleistungen mussten entlang der 116 Kilometer langen Strecke erbracht werden. Erinnert sei an den 513 Meter langen, von Freiberger Bergleuten gegrabenen Tunnel bei Oberau, die Elbbrücke bei Riesa, das wohl imposanteste Brückenbauwerk seiner Zeit oder an bis heute bewährte Erfindungen im Gleisbau. Der Standort des Leipziger Bahnhofs auf der Neustädter Seite zwischen dem heutigen Bahnhof Neustadt und der Leipziger Straße ergab sich aus der rechtselbischen Streckenführung über Strehla und Riesa. Wegen größerer Hochwassersicherheit erhielt sie den Vorzug.
 

     Zu ihrer Eröffnung setzte sich unter großer öffentlicher Anteilnahme am 8. April 1839 der Festzug vom Leipziger Bahnhof in der Residenzstadt Dresden zum Dresdner Bahnhof in der führenden Messe- und Handelsstadt Leipzig in Bewegung. Vorgespannt waren zwei englische Lokomotiven. Die SAXONIA – erste Lokomotive der Welt, die außerhalb Englands gebaut wurde - durfte an diesem Tag lediglich hinterher fahren. Ihr Schöpfer, Johann Andreas Schubert, Ingenieur, Unternehmer und Mitbegründer der Technischen Bildungsanstalt - der heutigen Technischen Universität Dresden - ließ es sich dennoch nicht nehmen, sie zu führen. Mit diesem Ereignis begann die wechselvolle Geschichte des "Leipziger Bahnhofs" in Dresden.
 

1957 eingeweihtes Bahnhofsgebäude steht heute noch

     Bereits wenige Jahre später wurde der Endbahnhof zu einem Durchgangsbahnhof umgebaut, um die Gleise über die 1852 fertig gestellte "Marienbrücke" bis zum damaligen Böhmischen Bahnhof, dem heutigen Hauptbahnhof, zu verlängern. Fast fünfzig Jahre teilte sich der Eisenbahnverkehr die Brücke mit dem Straßenverkehr. Mit dem Umbau erhielt der Bahnhof ein neues, für die damalige Zeit sehr repräsentatives Empfangsgebäude. Vor 155 Jahren, am 19.Mai 1857, mit der Abreise von König Johann, seiner Gattin Königin Amalie und deren Kinder Sidonie und Sophie nach Italien, wurde es feierlich eingeweiht.
 

     Während im Hinterland des Bahnhofs die Gebäude und Anlagen immer wieder den Veränderungen der Betriebsabläufe und der Eisenbahntechnik angepasst werden mussten, blieb das Empfangsgebäude im Wesentlichen erhalten. Fast 50 Jahre diente es so dem Personenverkehr. Mit dem Bodenbach-Leipziger Schnellzug Nr. 2, der am 1.März 1901 um 3:55 Uhr im Leipziger Bahnhof einfuhr und ihn um 4:00 Uhr in Richtung Leipzig wieder verließ, endete diese Ära. Den Personenverkehr übernahm der bereits 1847 eröffnete "Schlesische Bahnhof", heute Bahnhof Dresden-Neustadt.
 

     Mit dem Kauf der Leipzig-Dresdner Eisenbahn durch den Staat Sachsen im Jahre 1876 sowie der Übernahme weiterer sächsischer Eisenbahnlinien in Staatseigentum war es möglich geworden, die Bahnanlagen im Stadtgebiet Dresdens den Erfordernissen des wachsenden Großstadtverkehrs anzupassen. Zur Vermeidung niveaugleicher Kreuzungen mit dem städtischen Verkehr, wurden die Gleise gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf Dämme, Mauern und Brücken hochgelegt. Im Zuge dieser Entflechtung von Eisenbahn- und Straßenverkehr erhielten auch die Dresdner Fernbahnhöfe, der Bahnhof Dresden Neustadt und der Hauptbahnhof, ihre bis heute kaum veränderte Gestalt und Funktion. Nach zuletzt immer beschwerlicher werdenden gemeinsamen Verkehr von Straße und Schiene, entstand unmittelbar neben der steinernen Marienbrücke eine Eisenbahnbrücke in moderner Stahlkonstruktion.
 

      Die hochgelegte Bahntrasse zur neuen Brücke verläuft seitdem quer über den Vorplatz des Leipziger Bahnhofs. Sie zerteilt die großzügige Fläche des Bahnhofvorplatzes und zerstört die repräsentative Sichtachse zum stattlichen Gegenüber, dem heutigen Hotel "Bayrischer Hof". So von der Innenstadt abgeriegelt, geriet der Leipziger Bahnhof endgültig ins Abseits. Ebenfalls mit der Umgestaltung der innerstädtischen Eisenbahnanlagen wurde im Westen der Stadt der Rangierbahnhof Friedrichstadt angelegt. Zahlreiche Werkstätten, Depots, Verwaltungsgebäude und Beamtenwohnungen entstanden im Umfeld seiner weitläufigen Gleisanlagen. Mit der damit verbundenen Neuordnung des Güterverkehrs im Eisenbahnknotenpunkt Dresden wurde der Leipziger Bahnhof für die Erfordernisse des Stückgutumschlages und des Postverkehrs umgestaltet. Diese Aufgabe erfüllte er bis Anfang der 90iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
 

Deportationen in der NS-Diktatur

      Doch 37 Jahre nachdem hier die letzten Reisenden abgefertigt wurden, begann ein Kapitel seiner Geschichte das lange verdrängt worden ist. Abseits von der Öffentlichkeit machten die Nationalsozialisten den Alten Leipziger Bahnhof zum Umschlagplatz für die Opfer ihres Rassenwahns. Tausende wurden von hier aus nach Osten in den Tod geschickt.

"Im Nationalsozialismus war der Güterbahnhof Dresden-Neustadt Ausgangspunkt oder Zwischenstation für viele Deportationen von Jüdischen Frauen, Männern und Kindern. Im Oktober 1938 begann hier die Abschiebung von 724 Dresdner Juden nach Polen. Mit Zügen der Deutschen Reichsbahn erfolgte zwischen 1942 und 1944 ein großer Teil der Transporte in die Gettos Riga und Theresienstadt, in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau sowie in andere Konzentrationslager".
 

     Mit diesen Worten erinnert seit 2001 eine Gedenktafel am Bahnhof Neustadt an die Deportationen. Obwohl er nicht der Ort des tragischen Geschehens war. Eher trug er dazu bei, dass es möglich wurde. Denn er war einer der größten Umschlagplätze für Militärtransporte in den Osten. So wurden hier allein im Oktober 1944 täglich etwa 28 Militärzüge mit etwa 20 000 Wehrmachtsangehörigen abgefertigt. Alle künftigen Bauvorhaben auf dem Alten Leipziger Bahnhof müssen deshalb endlich die angemessene Erinnerung an die Deportationen am authentischen Ort ermöglichen.
 

     Heute beeindruckt das kaum bekannte Areal westlich vom Neustädter Bahnhof mit seinen Zeugnissen aus 173 Jahren wechselvoller Eisenbahngeschichte. Von der Leipziger Straße fallen die noch vom Ruß des Dampflok–Zeitalters geschwärzten Verwaltungs- und Lagergebäude ins Auge. Dahinter verlieren sich Lagerschuppen, Laderampen und Bahnsteigüberdachungen in der Tiefe des weitläufigen Geländes. An seinem grünen Anstrich ist eines der letzten Gebäude aus der Entstehungszeit von 1839 erkennbar. Während es als Bürogebäude dient, verfällt hinter einem Bauzaun das unmittelbar angrenzende Empfangsgebäude von 1857.
 

Dem geschichtsträchtigen Areal stünde es zu, städtebaulich singuläreren Objekten als "noch ein Einkaufzentrum" Platz zu geben: für Bildung, für Kultur, als Park und an historischer Stelle mit Eisenbahn-Denkmalen einem künftigen "Neues Verkehrsmuseum Dresden".


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